«Menschlich wirtschaften» – Eine Genossenschaft will Gesellschaftsstrukturen revolutionieren

ein Beitrag von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

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Neue Strukturen

Seit der Corona-Krise befindet sich die Gesellschaft in einem kranken Zustand. Die sozialen Strukturen sind alles andere als gesund. So sieht es die neu gegründete Genossenschaft «Menschlich wirtschaften». Sie reagiert auf die gesellschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre und sucht nach Lösungen, wie eine humanere und tragfähige Infrastruktur aufgebaut werden könnte. Die Ideen sollen im Austausch entstehen, weshalb die Genossenschaft die Vernetzung fördert und ein Forum schafft, wo Menschen zusammenkommen und neue Projekte initiieren. Zugleich geht es darum, einen Marktplatz für Waren, Dienstleistungen, Reisen und Jobangebote aufzubauen. Daneben entstehen Ideen, wie ein ganzheitliches Gesundheitswesen unter Einbeziehung des Gedankens der Eigenverantwortung sich tragfähig gestalten könnte.

Die Gründung erfolgte im Herbst letzten Jahres. „Die Genossenschaft ist nun positiv geprüft, eine Eintragung in das Genossenschaftsregister wird befürwortet“, sagt Sabine Langer, Ideengeberin und neben Heidi Herbig ehrenamtliche Vorsitzende der Genossenschaft. Umfangreiche Vorarbeiten hätten die Grundstrukturen gefestigt. Einige Projekte konnten schon vorbereitet werden. Die eigene Plattform, auf der sich bereits rund 4.000 Menschen angemeldet haben, bietet viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Immer mehr Gruppen vernetzen sich auf diese Weise. Sie alle tragen zu einem stabilen Netzwerk bei, „das“, wie auf der Webseite steht, „wirtschaftliche und emotionale Sicherheit durch ein menschliches Wirtschaften unter Gleichgesinnten fördert“.

Die Menschen hinter «Menschlich wirtschaften» haben aus den vergangenen zwei Jahren Corona-Politik eine Lehre gezogen. Aufgrund der Zwangsmaßnahmen verloren diverse Berufsgruppen ihre Grundlage, nicht nur Künstler, Gastronomen und Einzelhändler, sondern auch Reisevermittler oder Handwerker. Selbst Wissenschaftler, Journalisten, Juristen und Ärzte gerieten unter die Räder. Deshalb bemüht sich die Gesellschaft, über verschiedene Marktplätze Strukturen aufzubauen, innerhalb derer alle Beteiligten besser reagieren und auch in schwierigen Zeiten ihrem Beruf nachgehen können. Eines der wichtigsten Ziel sei es aber, freie Räume in der Wissenschaft, Bildung, Gesundheit, Journalismus und Kunst zu fördern, so Langer. In den gegenwärtigen Strukturen gebe es sie so gut wie gar nicht mehr, stellt die Vorsitzende fest.

Das Konzept der Sozialen Dreigliederung

Die Philosophie der Genossenschaft basiert auf der Sozialen Dreigliederung, die der Anthroposoph Rudolf Steiner beschrieben hat. Im Mittelpunkt steht die Idee, dass die Koordination gesamtgesellschaftlicher Prozesse nicht zentral durch einen einheitlichen Staat erfolgt, sondern in drei autonomen, aber gleichrangigen Bereichen: dem Geistes-, dem Rechts- und dem Wirtschaftsleben. Diese sozialen Glieder sollen in sich autonom sein, jedoch auf Augenhöhe zusammenwirken. Das sei die Grundlange dafür, dass so etwas wie eine Einheit des Gesamtorganismus entsteht. Zum Geistesleben, welchem der Wert der Freiheit zugeschrieben wird, werden Bildung, Wissenschaft, Religion und Kultur gezählt. Diese Bereiche tragen dazu bei, dass die Gesellschaftsmitglieder ihre individuellen Fähigkeiten entfalten und sich gegenseitig fördern. Das Rechtsleben basiere hingegen auf dem Gedanken, dass alle vor dem Gesetz gleich sind, während das Wirtschaftsleben weniger auf Ausbeutung als auf brüderlichem Verhalten und vertraglichen Vereinbarungen basiert. Die Grundlage dafür ist, dass man von seiner Arbeit auch leben können muss.

Diese drei Säulen seien heute nicht autark, sagt Langer. Die Erfahrungen der letzten Jahre hätten das deutlich gezeigt. „Vor dem Recht zum Beispiel sind nicht alle gleich“, so die Vorsitzende. Sie spielt auf umstrittene Urteile an, die vor Augen führen, dass große Unternehmen nach gravierenden Rechtsverstößen glimpflicher davonkommen als etwa einfache Bürger. Von einem brüderlichen Wirtschaftsleben könne ebenfalls keine Rede sein, so Langer. Die meisten Märkte zeichneten sich durch Konzentration und eine Monopolstellung riesiger Konzerne aus. Der freie und faire Wettbewerb sei genauso eine Illusion wie das solidarische Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Nicht viel besser sehe es im Geistesleben aus. Die letzten zwei Jahre hätten gezeigt, dass Kultur, Religion, das Gesundheitswesen und vor allem die Wissenschaft keineswegs so unabhängig seien wie allgemein behauptet, sondern eine klebrige Nähe zur Politik und Wirtschaft aufwiesen. Anders als im Konzept der Sozialen Dreigliederung fehle die Autonomie der drei Säulen, weil deren Institutionen in die jeweils anderen Bereiche eingriffen.

Chance für ein neues Mit- und Füreinander

Aufgrund dieser Schieflage will die Genossenschaft als Korrektiv fungieren. Sie sieht die Corona-Krise als Chance für ein neues Mit- und Füreinander in der Gesellschaft. Deswegen sollen ganz bestimmte Werte nicht nur gefördert, sondern auch gelebt werden – Werte wie Achtsamkeit, Freiheit, Eigenverantwortung, Respekt und Wertschätzung. Auf ihrer Webseite präsentiert die Genossenschaft einen genauen Leitfaden, an dem sich alle Beteiligten orientieren können. „Unser Tun entwickelt sich organisch im Miteinander aller“, heißt es dort. Bezogen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse bedeutet das, die Angestellten nicht auszubeuten, sondern sie zu Mitunternehmern zu machen. Das gehe nur über einen intensiven Austausch in den Unternehmen, den die Genossenschaft fördern möchte.

Damit diese Philosophie ins Bewusstsein dringt, wurde für die Mitglieder auf der Webseite ein Forum eingerichtet, das sie nutzen können, um sich zu vernetzen und zum Beispiel lokale Strukturen aufzubauen. Hier wird debattiert und nach Lösungen gesucht. Dabei geht es um Fragen, die sich beispielsweise darauf beziehen, wie Versicherungen im Gesundheitswesen anders gestaltet werden könnten. Wie lassen sich Gesundheitseinrichtungen besser vernetzen? Welche Institutionen lassen sich für Ärzte aufbauen, die nicht mehr in der Kassenärztlichen Vereinigung sind? In gemeinsamen Gesprächen können Mitglieder entsprechende Lösungen entwickeln. Laut Langer befänden sich unter ihnen viele Ärzte. Ihr Engagement beruhe auf eigenen Erfahrungen der letzten Jahre, in denen immer deutlicher geworden sei, dass sich das heutige Gesundheitssystem zu einem bürokratischen Apparat fehlentwickelt habe.

Um in diesem Bereich neue Strukturen zu schaffen, plant «Menschlich wirtschaften» unter anderem einen Marktplatz, wie beispielsweise Therapeuten oder Ärzte ihre Dienstleistungen anbieten können. Ein ähnliches Modell gibt es bereits im Tourismuswesen. Auf dem sogenannten Reisemarkt finden sich unter anderem kompakte Angebote, aber auch viele Unterkünfte an den unterschiedlichsten Orten. Wer den Service nutzen möchte, muss sich auf dem Portal registrieren. Gleiches gilt für die Sichtung des Stellenmarkts, wo Unternehmen und Arbeitssuchende entsprechende Inserate schalten können. Die bisherige Entwicklung sei positiv, sagt Langer: „Auf uns sind bereits mehrere Unternehmensgruppen zugekommen.“ In den nächsten Monaten solle das Projekt weiter an Fahrt gewinnen.

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